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Internierungslager: Die Evangelische Lagergemeinde


Inhalt

Quelle:
Klaus von Eickstedt: Christus unter Internierten. Neuendettelsau: Freimund-Verlag 1948.

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des © Freimund-Verlags.

Christus unter Internierten

von Dr. Klaus von Eickstedt

Die Stimmung im Lager

Das Morgenfrühstück setzte uns in große Bestürzung, denn es wurde uns eröffnet, daß das 1/10 Brot, also die eine dicke Scheibe Brot, für den ganzen Tag reichen müßte. Aufstrich gab es nicht, nur ein Kochgeschirr des üblichen Landserkaffees. Auch das Mittagessen hielt sich durchaus in dem Stil dieser unserer Versorgung, wir bekamen nämlich nur ein Kochgeschirr voll Wassersuppe, auf deren Grund einige Erbsen lagen, die zusammen kaum einen Eßlöffel füllten. Das Abendbrot fiel ganz aus und langsam auch der Humor, der sich mit dem alten Wort zu trösten suchte, daß man die ausgefallenen Mahlzeiten „durch stramme Haltung“ ersetzen müsse. Mit dieser „strammen Haltung“ wurde es immer schlechter. Nach den ersten Wochen war es nämlich bald so, daß manche Kameraden nicht mehr die Kraft hatten, sich zu den täglichen Zählappells einzufinden, andere wiederum bei diesen ohnmächtig umfielen, ganz zu schweigen von denen, die allmählich das Lazarett zu füllen begannen. Was Wunder, wenn einige Kameraden unter dieser und anderer Not den Freitod suchten oder beim Versuch, aus dem Lager auszubrechen, ihr Leben lassen mußten. Wir meinten, daß diese Behandlung ein Strafgericht von hoffentlich kurzer Dauer wäre. Dem war aber nicht so. Nach einigen Monaten wurde die Ernährung schlagartig aufgebessert, als nämlich zum erstenmal der amerikanische Armeegeneral Patton das Lager besichtigte und zu seiner großen Überraschung feststellte, daß das Lazarett mit Internierten angefüllt war, die an Hungertyphus, Hungerödemen und anderen Mangelerscheinungen schwer erkrankt waren. Außerdem sah er den Körperzustand aller Internierten im Lager und begriff sofort, daß sich hier eine Katastrophe größeren Ausmaßes vorbereitete, wenn nicht sofort durchgreifend geholfen würde. Das geschah sofort nach seinem Besuch. Aus amerikanischen Verpflegungsmagazinen wurden wir – ja, man kann im Vergleich zu der bisherigen Ernährung sagen, „gepäppelt“. Für die besonders gefährdeten und herabgekommenen Kameraden wurde durch die amerikanische Lagerleitung eigens eine „Mastbaracke“ eingerichtet. Wir waren alle schmerzlich bewegt, als wir hören mußten, daß General Patton, dieser wahre Menschenfreund, bei einem Autounfall tödlich verunglückt sei. Nach einigen Wochen wurde die Ernährung der Internierten auf den „Kalorien“-Stand der übrigen Zivilbevölkerung in Deutschland herabgesetzt, sie reichte immerhin aus, uns vor weiterem Kräfteverfall zu bewahren, konnte aber die schweren Schädigungen, an denen viele noch heute nach Jahren leiden, nicht beseitigen.

Es wird jeder verstehen, daß in den ersten Monaten der Inhaftierung angesichts dieser Lage und Aussichten eine sehr bedrückte, ja vielfach verzweifelte Stimmung im Lager herrschte. Aber fast schwerer als dieser Hunger lastete auf den Gemütern der Männer der Umstand, daß jeder Verkehr mit der Außenwelt völlig abgeschnitten war. Es durften weder Briefe empfangen noch abgesandt werden, nichts Gedrucktes oder Schriftliches durfte in das Lager hineinkommen. Nur auf den Lagergassen aufgestellte Lautsprecher brachten von Zeit zu Zeit von der Lagerleitung zensierte Nachrichten. Um die seelische Lage der Internierten zu verstehen, muß man sich einmal vorstellen, daß doch der größte Teil der Kameraden aus dem Felde kam, kriegsgefangen und dann interniert wurde. So hatten sie Wochen und Monate, nachdem die Katastrophe ihren Anfang nahm, nichts mehr von ihren Angehörigen gehört. Durch die Lautsprecher erfuhren sie nun, daß sich Millionen deutscher Frauen, Kinder aus dem Osten in die Westzonen ergossen. Es sickerte immer stärker durch, welch schreckliches Schicksal diesen Flüchtlingen in ihrer alten Heimat uns unterwegs beschieden war. Kurz und gut, keiner wußte, ob seine Lieben noch am Leben waren. Diese Ungewißheit zermürbte die seelische Widerstandskraft der Häftlinge noch mehr als der leibliche Hunger. Viele waren im Zustand dumpfer Verzweiflung nun noch von persönlicher Angst gepackt, ob sie selbst dieses Dasein durchstehen würden. Unter einer solchen körperlichen psychischen Belastung zeigte sich, was der Einzelne an sittlichem Halt besaß. Es schied sich Spreu vom Weizen! Wie schnell verschwand äußerer Schein und „Europens übertünchte Höflichkeit“ dahin, wenn durch den Hunger die niedersten Triebe im Menschen erwachten und die letzten Reste menschlicher Würde beseitigten. Schmerzlich war es, immer wieder mit ansehen zu müssen, wie sich Kameraden, von denen man wußte, welche angesehene Stellung sie in ihrem bürgerlichen Dasein gehabt hatten, dazu hinreißen ließen und sich dazu erniedrigten, sich wie die wilden Tiere auf die Zigarettenstummel zu stürzen, die die amerikanischen Soldaten weggeworfen hatten, um sie dann weiter zu rauchen. Wie beschämend war es, zu erleben, daß ein deutscher Lager-Bürgermeister mit seiner Bürgermeisterei zu einer Schieberzentrale erster Ordnung wurde. Brachte es doch der erste Bürgermeister, im Felde Hauptmann der Flakartillerie, fertig, einige Millionen Zigaretten, die im Rahmen der Gefangenenkost den Internierten zugedacht waren, nicht auszuhändigen, sondern außerhalb des Lagers zu verschieben, um sich und seinen Kameraden in der Bürgermeisterei gute Tage zu verschaffen. Wer diese Bürgermeisterei einmal ausgesucht hatte, die unsere „Selbstverwaltung“ repräsentierte, wußten wir nicht. Als ein Kreis von entschlossenen Kameraden beim amerikanischen Lagerkommandanten vorstellig wurde, um den Schikanen und Demütigungen ein Ende zu setzen, denen wir uns seitens unserer eigenen Bürgermeisterei ausgesetzt waren, da ließ dieser Bürgermeister die Mitunterzeichner der Eingabe mit einem Plakat umgehängt durch die Lagerpolizei durch alle Blocks führen. Auf diesem Plakat stand zu lesen: „Wir sind die Schweine, die es gewagt haben, gegen die Bürgermeisterei zu revoltieren.“ Schließlich gelang es uns doch, als die Übertretungen unserer Bürgermeisterei untragbare Formen annahmen, die amerikanische Lagerkommandantur zu bewegen, eine andere Bürgermeisterei, nun nach wirklich demokratischen Grundsätzen wählen zu lassen. Von da ab wurde es grundsätzlich anders, und wir bekamen Bürgermeister und Mitarbeiter, die sich die größte Mühe gaben, ihren armen Kameraden soweit wie möglich zu dienen.

Daß unter den geschilderten Leiden ein großer Teil der Kameraden dem Stumpfsinn verfiel, liegt auf der Hand. Der größere Teil jedoch riß sich auch trotz größter Leiden zusammen und blieb anständig. Wesentlich trug dazu bei, daß es ihnen gelang, einer tödlichen Gefahr Herr zu werden, nämlich der Langeweile. Man muß wissen, daß in unserem Lager nur wenige zum „Arbeitsdienst“ kamen, weil es für die Tausende im Lager kaum Arbeit gab. Die, die das Glück hatten auf Arbeit gehen zu können, sei es in den Forst, um Bäume zu fällen oder in Arbeitskommandos um industrielle Anlagen aufzuräumen und dergl., bekamen eine kleine Essenszulage; dieser Vorteil wurde aber durch die körperliche Mehrarbeit wieder aufgehoben. Die drohende Langeweile wurde wesentlich dadurch überwunden, daß allmählich die Möglichkeit gegeben war, sich geistiger Beschäftigung hinzugeben. Es war ja im Lager durch die Tausende von höheren Beamten soviel „Intelligenz“, daß sehr bald ein geordnetes und geregeltes kulturelles Leben, ein immer intensiver werdender Hochschulbetrieb einsetzte. Bücher gab es zwar nicht im Lager, aber die vielen Dozenten, die sich erboten, Vorträge und Kurse abzuhalten, schöpften aus dem Gedächtnis, und die Hörer suchten sich irgendwie Papierfetzen, um das Gehörte, vor allen Dingen bei Sprachlehrgängen die Vokabeln, festzuhalten. Alle, die noch nicht ganz verblödet waren, stürzten sich auf alles, was Ablenkung brachte. Eine solche Betätigung sahen die Amerikaner gern und stellten uns deshalb bald eine leere Baracke als „Kulturbaracke“ zur Verfügung. Bald gab es kein Fach und kein Gebiet aus den Natur- und Geisteswissenschaften mehr, das nicht im Moosburger Lager theoretisch und praktisch behandelt worden wäre. In Vorlesungen, Seminaren und Arbeitsgemeinschaften war der gewaltige Stoff allmählich geordnet und systematisch gegliedert worden. Das konnte umso sachkundiger geschehen, weil viele erfahrene Hochschullehrer und Pädagogen, die als höhere Beamte auch unter den „automatic arrest“ fielen, im Lager zur Verfügung standen. Die Dozentenschaft schloß sich später ihrerseits in einer „Moosburger Akademie“ zusammen. Neben den Wissenschaften kam auch die edle Muse zu ihrem Recht. In den einzelnen Blocks entstanden Männerchöre, im Frauenblock auch ein Frauenchor, und als der Lagerkommandant später erlaubte, auch Instrumente ins Lager schicken zu lassen, kleine Kammermusikvereinigungen. Die Schauspielkunst wurde zu höchster Blüte entwickelt; unter Leitung des ehemaligen Frankfurter Generalintendanten wurde eine hervorragende Theatergruppe gebildet, die mit primitivsten äußeren Mitteln Aufführungen wie „Kabale und Liebe“, die „Räuber“, den „Urfaust“ u.a.m. herausbrachten. Der Vollständigkeit halber sei auch noch das „Moosburger Platzerl“ erwähnt, das für die bayerischen Kameraden eine den klassischen Theaterstücken gegenüber schmerzhaft empfundene Lücke ausfüllte. Als Gegenpol brachten die anspruchsvollen „Humanisten" Platons „Phaidon“ und den „König Ödipus“ von Sophokles heraus.

Und doch! Wenn man sich einmal näher diesen „Betrieb“, sei es wissenschaftlicher, künstlerischer oder unterhaltender Art ansah – gewiß, er gab vielen Ablenkung in ihrem trostlosen dasein, überbrückte die tödliche Langeweile und förderte schließlich auch den Einzelnen in seinem Bildungsstreben, aber letzten Endes war all das eine dauernde „Flucht!“ Alle diese schönen Dinge konnten über die innere Leere, die nagende Sorge, die große Ungewißheit auf die Dauer nicht hinweghelfen. Der ewig quälende Hunger, der zunehmende Kräfteverfall, die Freiheitsberaubung, die zermürbenden Sorgen um die liebsten Angehörigen, das Zusammengeballtsein mit Menschen, an denen man litt, die nervenaufreibenden Gerüchte, die täglich neu auftauchten und emsig kolportiert wurden, einen himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrügt sein ließen – alle diese Dinge machten in zunehmendem Maße den einzelnen Menschen, wie man zu sagen pflegt, innerlich „fertig“. Hinzu kam was am schwersten wog: Der totale Zusammenbruch dessen, was allen bisher hoch und heilig war, der Verlust der Heimat, die Erniedrigung des Volkes, jetzt gedemütigt und zerrissen, das Zerbrechen aller Ideologien, von denen man gelebt hatte, die In-Fragestellung aller geistigen Werte, an denen man bisher seinen inneren Halt gefunden hatte, kurz dieser radikale Bruch, er stellte jeden einzelnen ganz existentiell in eine völlig neue Situation. Der bisherige „bürgerliche Mensch“ mit seinen bisherigen Wertmaßstäben war zerbrochen! Er begriff sich plötzlich und unmittelbar nur noch in seiner nackten, animalischen Existenz! Sollte wirklich die brutale Sinnlosigkeit eines solchen Daseins aller Weisheit letzter Schluß sein? Diese quälende und brennende Frage hetzte viele in immer neue Illusionen und ließ sie mit gierigen Händen nach all den Zerstreuungen greifen, die, wie dargestellt, im Lager geboten wurden, und – sie wurden nur noch hungriger! Sollte man nicht lieber das Leben, das mit dem Zusammenbruch innerer und äußerer werte sinnlos geworden schien, wegwerfen, statt kümmerlich weiter zu vegetieren, ohne Aussicht, als sogenannter „politischer Verbrecher“ jemals wieder einen Platz in einer wohlgeordneten bürgerlichen Gesellschaft einnehmen zu können?



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