Überlegungen zur Frage des Jahrtausendbeginns |
Von Dr. Marcus Gossler, GrazDer Beginn des Jahres 2000 bot reichlich Gelegenheit, unterschiedliche Meinungen zur Frage zu lesen, wann der Beginn des 3. nachchristlichen Jahrtausends anzusetzen wäre. Fast alle entscheiden sich dabei entweder für den 1. Januar 2000, 0 Uhr oder für den 1. Januar 2001, 0 Uhr. Diese beiden Ergebnisse möchte ich im Folgenden als Typ I und Typ II bezeichnen. Interessanter als die Ergebnisse selbst, sind jedoch die Argumente, die für beide Typen ins Treffen geführt werden.
Die vermutlich häufigste (und oft unbewußte) Begründung für den Typ I ist die Änderung, die das Aussehen der Jahreszahl beim Übergang von 1999 zu 2000 erfährt. Zu diesem Zeitpunkt beginnt offensichtlich eine Reihe von 1000 Jahren, deren Jahreszahlen alle mit 2 beginnen. Die kann man zwar fraglos als ein neues Jahrtausend bezeichnen, daß dieses neue Jahrtausend aber mit dem 3. nachchristlichen identisch wäre, ergibt sich daraus nicht.
Für Historiker (und historisch Gebildete) ist der Typ II naheliegend. Die in der Alten Geschichte benützte Form der Jahreszählung kennt kein Jahr 0, sondern das Jahr 1 n. Chr. folgt unmittelbar auf das Jahr 1 v. Chr. Es erscheint sehr sinnvoll, die Zeitenwende zwischen diesen beiden Jahres festzulegen, wie es auch der sprachlichen Bedeutung der Wörter "vor" und "nach" entspricht. Damit beginnt das 1. Jahrtausend mit dem Beginn des Jahres 1 und das 3. entsprechend mit dem Beginn des Jahres 2001.
Es gibt noch einen weiteren Grund, warum der Typ II die Historiker besonders anspricht. Die heutige Sprechweise mit Kardinalzahlen ("Jahr zweitausend") ist noch nicht gar so alt. Früher wurden Ordinalzahlen verwendet ("im 1500. Jahr des Herrn"). Ist das Jahr 1 aber das "1. Jahr des Herrn", so ist natürlich das Jahr 2000 das "2000. Jahr des Herrn", das erst zu Ende gehen muß, bevor das 2. Jahrtausend abgeschlossen ist.
Die eben beschriebene Art der historischen Jahreszählung ist (wohl bedingt durch den Geschichts-Unterricht in der Schule) für die meisten gebildeten Europäer die einzige, die sie kennen. Darüber hinaus erfreut sie sich verschiedentlich auch behördlicher Unterstützung, wie etwa in der DIN 1355.
Nun ist aber diese historische Variante der Jahreszählung ganz offensichtlich mit einem mathematischen Fehler behaftet, der im Weglassen der Jahreszahl 0 besteht und als "Epochensprung" bezeichnet wird. Vom Jahre 10 v. Chr. bis zum Jahre 10 n. Chr. sind nämlich nicht (wie man im ersten Moment vermuten möchte) 20 Jahre vergangen, sondern nur 19, weil nämlich dieses eine Jahr (das Jahr 0) fehlt. Auch die Regel, daß jedes Schaltjahr eine durch 4 teilbare Jahreszahl haben muß, wird von den Jahren "v. Chr." verletzt. Deshalb verwendet die Astronomie eine Jahreszählung mit gewöhnlichen ganzen Zahlen. Dabei folgt das Jahr 1 auf das Jahr 0, dieses wieder auf das Jahr -1 und so weiter. Aus dem Jahr 10 v. Chr. wird dann das Jahr -9, und natürlich sind vom Jahr -9 bis zum Jahr +10 nur 19 Jahre vergangen.
An dieser Stelle taucht meist die Frage auf, ob die astronomische Zählung außerhalb der Astronomie überhaupt "gilt". Eingeführt wurde sie 1740. Damit ist sie älter, als die historische, die erst aufkam, als es gegen Ende des 18. Jahrhunderts üblich wurde, die Christliche Ära auch auf vorchristliche Daten anzuwenden. Aber selbst wenn Daten "v. Chr." schon bei der Einführung der Christlichen Ära im Jahre 525 üblich gewesen wären, könnte man damit nicht gegen die Gleichberechtigung der astronomischen Zählung argumentieren, denn sicher wurde nie in der ganzen Geschichte ein gerade laufendes Jahr von irgend jemandem als ein Jahr "v. Chr." bezeichnet. Die rückwirkende Anwendung der historischen Zeitrechnung dient ebenso wie die der astronomischen nur dem formalen Zweck der zeitlichen Ordnung, ohne daß Rücksichten auf geschichtliche Realitäten genommen werden müßten.
Allerdings hat diese astronomische Zählung vorerst einmal keine unmittelbare Konsequenz für die Frage des Jahrtausendbeginns, denn es ist ja noch nicht festgelegt worden, ob mit dem eingefügten Jahr 0 das 1. nachchristliche Jahrtausend beginnt oder das 1. vorchristliche endet. Nach wie vor gibt es ja das vorhin beschriebene Argument der Ordnungszahlen, das den Typ II bedingt.
Bei näherer Betrachtung ist dieses Argument aber nicht so gut, wie es scheint. Alle diesbezüglichen chronologischen Festlegungen wurden zu einer Zeit getroffen, da Latein die maßgebliche Sprache der Wissenschaft und Verwaltung war. Nun hat aber ausgerechnet die lateinische Grammatik die ungewöhnliche Besonderheit, die Verwendung von Kardinalzahlen im Zusammenhang mit Jahren zu verbieten. Die beiden Ausdrücke "im Jahre des Herrn 525" und "im 525. Jahre des Herrn" unterscheiden sich im Lateinischen nicht und lauten beide "anno Domini quingentesimo vicesimo quinto". Das entspricht wörtlich der zweiten Übersetzung, kann aber inhaltlich beides bedeuten, denn im Lateinischen gibt es ja keine Möglichkeit zu differenzieren. Historisch zeigt sich nun, daß beim Übergang vom Lateinischen zu den einzelnen Nationalsprachen anfangs zwar die wörtlichere Übersetzung überwog, sich später jedoch überall eine solche mit Kardinalzahlen durchsetzte.
Hätten sich die Ordinalzahlen behauptet, wäre das ein starkes Argument für den Typ II gewesen, die schließlich siegreichen Kardinalzahlen sind aber mit den Typen I und II gleichermaßen verträglich. Es muß nämlich erst festgelegt werden, ob unsere Jahre als laufende oder als abgeschlossene zu zählen sind. Monate und Tage sind beispielsweise als laufende festgelegt: der 3. Monat (März) etwa ist erst mit dem letzten Tag vorüber, und dieser erst um 24 Uhr. Der Zeitpunkt 31.3. 12 Uhr bedeutet also nicht 3 Monate, 31 Tage und 12 Stunden nach Jahresbeginn. Anders verhält es sich mit der Uhrzeit: Um 19.59 Uhr liegt der Beginn des Tages 19 Stunden und 59 Minuten zurück, von den angegebenen 19 Stunden fehlt nichts.
Noch etwas muß erst festgelegt werden: der Zeitpunkt, der als Zeitenwende gelten soll. Es ist klar, daß er im Bereich der Jahreszahl 0 liegen muß, aber wo genau? Dieses Jahr ist ja kein Zeitpunkt (so wie die Zahl 0 ein Punkt auf der reellen Zahlengerade ist), sondern ein Zeitintervall von der Länge eines Jahres. Man könnte die Mitte dieses Jahres wählen, würde sich damit aber wohl nicht durchsetzen, denn es herrscht breite Übereinstimmung darüber, daß die Zeitenwende zwischen zwei aufeinanderfolgenden Jahren liegen soll. Dann aber haben wir nur noch den Beginn und das Ende des Jahres 0 zur Verfügung.
Wie man leicht sieht, sind diese beiden Festlegungen nicht unabhängig voneinander. Liegt die Zeitenwende am Beginn des Jahres 0, so haben wir abgeschlossene Jahre, andernfalls laufende. Die entsprechenden Festlegungen müßten dann lauten: "Die Jahreszahl ist jene ganze Zahl, die angibt, wieviele ganze Jahre zwischen der Zeitenwende und dem Beginn/Ende des zu bezeichnenden Jahres liegen". Dabei hat die Beginn-Variante den Typ I und die End-Variante den Typ II zur Folge.
Was spricht nun zugunsten welcher Entscheidung? In der End-Variante hätte die astronomische Jahreszählung dieselbe Zeitenwende wie die historische Jahreszählung. Andererseits hat die Astronomie mit dem Besselschen Jahr bereits eine wichtige Vorentscheidung zugunsten der Beginn-Variante getroffen. Dieses Besselsche Jahr (das nicht exakt mit dem Kalenderjahr zusammenfällt - aber die wenigen Stunden Unterschied sollen uns hier nicht beschäftigen) wird anstatt in Monate, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden einfach dezimal unterteilt. Dabei erfolgte die Festlegung in der Weise, daß beispielsweise die Mitte des Jahres 1 die Dezimalzahl 1.5 bekommt (nicht 0.5) und deshalb anderthalb Jahre nach der Zeitenwende liegt. Das bedeutet, daß die Besselsche Zeitenwende (also der Zeitpunkt 0.0) zu Beginn des Jahres 0 liegt.
Die astronomische Zeitzählung legt somit den Typ I nahe, allerdings nicht zwingend. Aber auch die historische Zeitrechnung ist nicht untrennbar mit dem Typ II verbunden. Das Argument der Ordinalzahlen wird nämlich nicht nur durch die Eigentümlichkeit der lateinischen Grammatik entwertet, sondern auch durch die Tatsache, daß Ordinalzahlen (ebenso wie Kardinalzahlen) in der Mathematik nur für den Bereich der natürlichen Zahlen definiert sind. In einer linear geordneten Menge, die ein kleinstes Element enthält, hat dieses Element die Ordinalzahl 1. In Mengen ohne kleinstes Element gibt es keine Ordinalzahlen. Nun hat aber die Menge der Jahreszahlen kein kleinstes Element, weil ja jedes Kalenderjahr nicht nur einen Nachfolger, sondern auch einen Vorgänger hat. Der Streit um Kardinal- oder Ordinalzahlen ist also letztlich müßig, denn beide sind als Jahreszahlen ungeeignet. Hervorragend geeignet sind hingegen die ganzen Zahlen, die aber in der historischen Jahreszählung nicht ausschließlich verwendet werden. Daher ist es sinnvoll, zwischen Jahreszahlen und Jahresbezeichnungen zu unterscheiden. Dann kann man sagen, daß die Historiker (anders als die Astronomen) Jahreszahlen nicht für alle Jahre verwenden, sonden nur für jene ab dem Jahr 1. Alle davor tragen Jahresbezeichnungen, die keine Jahreszahlen sind. Nun sind Bezeichnungen aber völlig willkürlich - statt das Jahr 0 als "1 v. Chr." zu bezeichnen, könnten die Historiker es auch "Jesus-Jahr" oder sonst irgendwie nennen. Auf die Festlegung der Zeitenwende hat das natürlich keinerlei Einfluß. Somit gibt es keinen zwingenden Grund, warum diese Zeitenwende nicht auch zwischen den Jahren 2 v. Chr. und 1 v. Chr. liegen könnte.
Somit gelangen wir zu dem Ergebnis, daß weder der Typ I ("das 3. Jahrtausend beginnt 2000") noch der Typ II ("das 3. Jahrtausend beginnt 2001") mit mathematischen oder historischen Argumenten widerlegt werden kann. Es besteht daher (zumindest solange man nicht die genaue Begründung kennt) keine Veranlassung, einen Anhänger der einen oder der anderen Aussage für dumm zu halten.
Dieser Aufsatz erscheint auch im Heft 12/2000 des "Sternenboten" in Wien.
Text: © Dr. Marcus Gossler - Zuletzt bearbeitet am 31.1.2000 vom © WebTeam Moosburg (E-Mail) - Es gilt das Urheberrecht! |